Sarah Czerney & Lena Eckert Alma Mater – wo bist du? Ein feministisches Mütter*manifest für mehr Sichtbarkeit von Sorgearbeit in der Wissenschaft
Diese und ähnliche Aussagen hören wir sehr oft im Netzwerk Mutterschaft und Wissenschaft[1], das wir 2021 gegründet haben. Die scheinbar individuellen Erfahrungen – „Einzelfälle“ – , von denen sie berichten, sind repräsentativ für Mütter* in der Wissenschaft, wie Studien mittlerweile belegen (Williams, 2000, 97, und 2005, Staniscuaski et al., 2023, Torres et al., 2023). Dennoch fühlen sich Wissenschaftler*innen, die auch Mütter* sind, oft allein mit ihren Erfahrungen. Jede Einzelne hat oftmals das Gefühl, die Einzige zu sein – die einzige Mutter* am Institut; die Einzige, die aus Meetings früher gehen muss, weil die Kita schließt; die Einzige, die schon wieder fehlt, weil das Kind krank ist; die Einzige, die nicht auf die Konferenz am Wochenende fahren kann, weil es keine Kinderbetreuung gibt; die Einzige, die ständig an den Rand ihrer Belastbarkeit oder darüber hinaus gehen muss, weil die viel beschworene Vereinbarkeit zu oft noch immer unerreichtes Ideal ist.
Diese Gefühle der Isolation, Vereinzelung und Überlastung im Spannungsfeld Mutterschaft und Wissenschaft resultieren unserer Beobachtung nach aus vornehmlich zwei Gründen, die beide mit der Unsichtbarkeit von Mutterschaft in der Wissenschaft verbunden sind: Erstens gibt es tatsächlich wenige Mütter* in der Wissenschaft. Wie viele es auf welchen Karrierestufen genau sind, wissen wir derzeit nicht, denn auch die genaue Datenerhebung zu Mutterschaft oder Elternschaft in der Wissenschaft gibt es nicht.[2] Dieser motherhood data gap führt zum zweiten Grund für die Vereinzelung: Die wenigen Mütter*, die es trotz aller Widerstände in der Wissenschaft doch gibt, sind oftmals unsichtbar. Durch die fehlende Forschung zu Mutterschaft in der Wissenschaft bleiben Mütter* oftmals im Verborgenen und fallen im Übrigen auch in vielen Frauenförderprogrammen hinten runter, wenn diese nur auf das Merkmal Geschlecht achten (z. B. wenn diese als pure individualisierende Anpassungstrainings an männlich konnotierte Wissenschaftskarrierewege konzipiert sind und Sorgearbeit ausklammern). Des Weiteren sind auch viele Mütter* in der Wissenschaft sehr darum bemüht, alles, was mit ihrer Mutterschaft in Verbindung steht, im professionellen Kontext zu verstecken, aus Angst, als weniger belastbar, weniger wissenschaftlich, weniger professionell wahrgenommen zu werden. Dass diese Angst berechtigt ist, zeigen Studien zum maternal bias. Demnach werden Mütter* und Schwangere als weniger kompetent und weniger engagiert für ihren Beruf wahrgenommen, weniger ge- und befördert und schlechter bezahlt als kinderlose Frauen und als Männer[3] (vgl. Arena et al., 2022; Correll et al., 2007; Staniscuaski et al., 2023). Der maternal bias trifft aber nicht nur tatsächliche Mütter*, sondern alle als weiblich gelesenen Menschen, da ihnen (oftmals unbewusst) unterstellt wird, dass sie Mutter* werden und dann nicht mehr 100 % für ihren Job da sind – ganz unabhängig davon, ob die Person Kinder haben möchte oder kann. Der maternal bias wird deshalb auch als die stärkste Form des gender bias beschrieben (vgl. Bornstein et al., 2012, 61). Mutterschaft ist im Wissenschaftsbetrieb somit mit einem Tabu belegt: Du sollst nicht Mutter* sein und wenn du es trotzdem bist, dann verstecke es besser!
Die daraus resultierende Verunsichtbarung[4] von Müttern* und Mutterschaft in der Wissenschaft führt dazu, dass sich Wissenschaftler*innen, die auch Mütter* sind, sehr oft zwischen ihrer Rolle als Mutter* und der als Wissenschaftler*in zerrissen fühlen und darunter leiden, weil sie keine anderen sichtbaren Mütter* kennen, die als Vorbild oder Verbündete fungieren könnten. Dazu kommt, dass Mutterschaft in der Wissenschaft eher zum Nachteil ausgelegt wird statt als zusätzliche Quelle für Kompetenzentwicklung. Die Alma Mater präsentiert sich deshalb für die meisten von uns als das Gegenteil dessen, was sie bezeichnet – nämlich eine nährende Mutter*. Stattdessen zeigt sich der Wissenschaftsbetrieb als extrem fürsorge- und Mütter*feindlich.
Gründe dafür sind u. a. in den Idealisierungen und Ideologisierungen von Müttern* und Wissenschaftler*innen zu finden. Beide Rollen sind hochgradig aufgeladen mit Bildern der Entgrenzung, der völligen Hingabe und der Priorisierung einer einzigen Aufgabe (Eckert, 2020). Der [sic!] Wissenschaftler in Bezug auf seine geistige und die Mutter* in Bezug auf ihre körperliche Verfügbarkeit. Eine Frau, die beide Positionen ausfüllen will, steht damit notwendigerweise vor einem Dilemma oder muss sich radikal abgrenzen von den Erwartungen, die in diesen sehr unterschiedlichen Sphären ständig an sie herangetragen werden. Das kostet Kraft – vielleicht sogar noch mehr als das „bloße“ Organisieren und Balancieren der doppelten Mental Load, die in beiden Bereichen anfällt.
Dass das Aufwenden von dieser Kraft eine Verschwendung von wichtigen Ressourcen ist, die diese Frauen an anderer Stelle einsetzen könnten, ist offensichtlich. Bevor wir begonnen haben, uns mit dem Thema Mutterschaft aktivistisch innerhalb der Academia auseinanderzusetzen, hatten wir das Gefühl, sehr wenige zu sein. An unserem Institut wussten wir von drei Müttern* – auch wenn es wesentlich mehr Frauen gab. Der Dekan hatte auch ein Kind, aber das wohnte bei der Mutter* in einer anderen Stadt.
Die sogenannte Unvereinbarkeit, die wir empfanden, wollten wir nicht auf uns persönlich sitzen lassen – als feministischen Geisteswissenschaftler*innen war uns klar, dass die Häufung von sogenannten individuellen Erfahrungen auf strukturelle Ursachen hinweist. Und so haben wir uns 2018 entschieden, ein Buch mit Erfahrungsberichten von Müttern* in der Wissenschaft herauszugeben. Am 16. Dezember 2020 haben wir dieses Buch online gelauncht (Czerney et al., 2020). Zufällig fiel diese Book Launch auf den Vorabend des zweiten Lockdowns. Alle Anwesenden wussten also, dass ab dem Folgetag alle zu Hause sein würden – wieder auf unbestimmte Zeit. Die Stimmung an diesem Abend war tief beeindruckend und berührend. Neben der Wut und der Verzweiflung entwickelte sich zwischen den Anwesenden eine Atmosphäre der Solidarität, der Erleichterung und des Sich-verbunden-Fühlens. Wir ließen gemeinsam einen Raum entstehen, in dem das, was sonst nicht gesagt, gezeigt und anerkannt wird, endlich sichtbar und sagbar wurde: Gefühle der unendlichen Müdigkeit, grenzenlosen Überlastung, der jahrelangen Zerrissenheit, des Nicht-mehr-so-weitermachen-Könnens und -Wollens, aber auch revolutionäre Ideen, was zu tun wäre.
In den ersten Monaten des Jahres 2021 „tourten“ wir mit diesem Buch durch ganz Deutschland. Wir wurden zu Online-Lesungen und -Vorträgen eingeladen und bei jeder Veranstaltung ist das Gleiche passiert: Das Unsagbare wurde sagbar, das Unsichtbare wurde sichtbar – das Tabu Mutterschaft in der Wissenschaft fing an zu bröckeln.
Mütter* erzählten von der extremen Überlastung durch Homeoffice, Homeschooling, Kleinkindbetreuung und Hausarbeit. Sprachen darüber, dass sie es eben nicht schafften, zwischen fünf und sieben Uhr in der selbst designierten Schreibschicht, bevor die Kinder aufwachten, ihre Dissertation zu schreiben. Dass die Müdigkeit und die Erschöpfung zu körperlichen Symptomen wie Übelkeit, Migräne oder chronischen Rückenschmerzen führten. Dass sie mit der Hand gegen die Wand liefen oder sich selbst schlugen, um ihre Kleinkinder nicht zu verletzen. Dass sie weinend auf dem Küchenboden lagen[5] und einfach nicht mehr konnten. Und von der generellen Erfahrung: dass sie nicht (mehr) wussten, wie sie weiterhin so tun sollten, als seien Mutterschaft und Wissenschaft „vereinbar“.
Aufgrund dieser Berichte war uns sehr schnell klar, dass wir ein zweites Buch zu den Erfahrungen von Müttern* in der Wissenschaft während der Pandemie schreiben sollten. Entgegen unseren eigenen Kraftreserven entschieden wir uns dafür (Czerney et al., 2022). Dieses Buch versammelt Berichte aus der Zeit der Pandemie von Müttern*, die als Wissenschaftler*innen nicht so arbeiten konnten, wie sie wollten. Die das Fortkommen in ihrer Karriere hinter das Wohl ihrer Familien gestellt haben, die die Sehnsucht nach Denken, Schreiben, Lesen hinter all die tagtäglichen Ansprüche und Bedürfnisse aller anderen gestellt haben. In diesem zweiten Buch haben wir auch ein Manifest veröffentlicht, das wir nun hier in voller Länge mit freundlicher Erlaubnis des Verlags Barbara Budrich abdrucken.
Dieses Manifest haben wir mit einigen der Autor*innen des zweiten Buches in einem dreistündigen Online-Workshop geschrieben. Es stellt nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern die Maximalforderungen aller Beteiligten dar. Wir schließen uns damit der einflussreichen feministischen Tradition des Schreibens von Manifesten an.
Es geht hier nicht nur darum, dass in den akademischen Lebensläufen sichtbar gemacht werden muss, dass eine* zusätzlich zu all den akademischen Tätigkeiten Care-Arbeit leistet. Was das bedeutet, dringt langsam ins Bewusstsein der (männlichen sozialisierten) Öffentlichkeit – vor allem durch die Prägung neuer Konzepte und Begrifflichkeiten, wie z. B. Mental Load, Emotional Labour oder Maternal Wall (Williams, 2005). Es geht uns nicht nur darum, Care als Kategorie in den Lebenslauf aufzunehmen. Vielmehr gilt es, das Ideal der guten Mutter* zu dekonstruieren und Raum zu machen für die Vielfalt und die diversen Mutterschaftsentwürfe all der sehr unterschiedlichen Mütter*, die es gibt. Damit all diese unterschiedlichen Mutterschafts- und Familienentwürfe aber tatsächlich gleichberechtigt gelebt werden können, braucht es dringend (hochschul-)politische Veränderungen: Sorgearbeit muss endlich als das anerkannt werden, was sie ist – die Grundlage der Gesellschaft und damit auch der Wissenschaft. Um diese simple und doch so revolutionäre Forderung auf allen Ebenen der Gesellschaft und auch der Wissenschaft zu verankern, braucht es konkrete Maßnahmen. Ein paar Impulse dafür möchte das folgende Manifest bieten.
Mutterschaftsfeministische Postulate an die Wissenschaft. Ein Manifest
Ad-hoc-Kollektiv von Mutter*Wissenschaftler*innen
Gemeinschaft und Solidarität
Wir fordern für alle Menschen eine andere Wissenschaft und andere Arbeitsbedingungen sowie ein gesünderes Umfeld und ein Wissen, das nicht nur für wenige produziert wird, sondern nachhaltige und solidarische Schwerpunkte setzt. Solidarität zeigt sich sowohl in der Anerkennung der Mehrbelastung von Müttern* und anderen Sorgetragenden in der Wissenschaft als auch in konkreten Handlungen: dem Schaffen von familiensorgekompatiblen Rahmenbedingungen, die schon vor der Anstellung im Wissenschaftsbetrieb beginnen, sich durch den gesamten Arbeitsalltag ziehen und sich schließlich in familiensorgefreundlichen Strukturen niederschlagen. Wir fordern eine Wissenschaft, in der Kinder und fürsorgebedürftige Angehörige nicht als Makel, Störung oder Karrierehindernis gesehen werden. Wir fordern eine Welt, in der niemand vergisst, dass er*sie auf Fürsorge angewiesen war und wieder sein wird.
Fürsorge als Basis der Gesellschaft
Weil ohne Care-Arbeit kein Mensch existieren kann, fordern wir, dass Care-Arbeit als Grundlage der Gesellschaft und somit auch der Wissenschaft sichtbar wird: Erst die Fürsorge füreinander macht aus Individuen eine Gesellschaft. Wir fordern die Anerkennung aller Fürsorgetätigkeiten als soziale, emotionale, organisatorische und pflegerische Arbeit.
Weil keine*r die Care-Verantwortung alleine tragen kann, fordern wir, dass Care-Verantwortung auf alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen aufgeteilt wird. Wir fordern zuverlässige, gemeinschaftliche und ausreichende Kinderbetreuung, weil sie eine Aufgabe der Gemeinschaft ist. Wir fordern die Akzeptanz aller Lebensmodelle, zu denen sich Eltern entschließen, und eine staatliche Unterstützung für die gleichmäßige Verteilung von Care-Arbeit unter den beteiligten Eltern und Sorgetragenden.
Wir fordern die neue Kategorie „Care“ im Lebenslauf, um die bislang nicht anerkannten und ausgeblendeten Pflege- und Fürsorgetätigkeiten strukturell sichtbar zu machen. In ihrem Lebenslauf können und sollten alle, ob mit Kindern oder ohne, ihre Care-Aufgaben sichtbar machen, auch die Sorge für sich selbst. Bei Bewerbungen sollen diese Care-Kompetenzen als gesellschaftliche Leistung anerkannt und genauso herangezogen werden wie die Publikationsliste, die Auslandserfahrungen oder die Drittmitteleinwerbungen. Nur unter Einbezug und Anerkennung der Care-Tätigkeiten nämlich wird die eigentliche „Produktivität“ des Individuums sicht- und bewertbar. Wir fordern, dass Fürsorgetätigkeiten und damit verbundene Fähigkeiten als Kompetenzen und Qualifikation an allen Stellen des Wissenschaftssystems gewürdigt werden.
Produktivität als zu hinterfragende Größe
Weil uns unser Zeitgeist einer neoliberalen Verwertungslogik und der kontinuierlichen Selbstausbeutung unterwirft, fordern wir ein neues Verständnis von Produktivität, das noch zu entwickeln ist. Wir fordern eine Wissenschaft, in der die Qualität der Forschung höher bewertet wird als die Quantität. Neben der wissenschaftlichen Wissensgenerierung hat das aus der eigenen (Lebenswelt-)Erfahrung gewonnene Wissen seine Berechtigung, deshalb fordern wir die Integration diversen Erfahrungswissens in die Wissenschaft.
Wir fordern eine Entschleunigung der Wissenschaft, weil alle davon profitieren würden. Dies würde eine Abkehr vom omnipräsenten Produktions-, Leistungs- und Zeitdruck sowie von der Bewertung rein auf Basis von Bildungszertifikaten bedeuten. Nur durch Entschleunigung wird ein gutes Leben im Wissenschaftsbetrieb möglich. Weil Faulheit ein Wert an sich ist, fordern wir ihre Akzeptanz als Teil des Lebens und damit auch der Wissenschaft.
Diversität
Diversität führt zu Perspektivenreichtum. Dieser wiederum führt zu komplexeren und weniger reduktionistischen Betrachtungen von Problemen. Weil ganzheitliche Betrachtungen von Problemstellungen wichtig sind, fordern wir Diversität in allen Teams und insbesondere in den Führungsebenen. Die Forschung sollte möglichst viele verschiedene Lebensrealitäten abbilden und aktive Wertschätzung für unterschiedliche Lebensentwürfe zeigen.
Deshalb fordern wir, dass der Wissenschaftsbetrieb seine Rahmenbedingungen so gestaltet, dass eine größtmögliche Diversität an Menschen daran teilhaben kann. Weil der Mythos der „Besten-Auslese“ nicht zur Auswahl der Besten, sondern der Privilegiertesten führt, fordern wir die Abschaffung dieses Mythos.
Selbstfürsorge und Gesundheit
Weil Selbstfürsorge einen Wert an sich hat, fordern wir Zeit für uns, ohne dass diese einem anderen Zwecke außer sich selbst dienen muss. Es muss Zeit sein zur Regeneration, Reflexion und Gedankenlosigkeit.
Wir fordern eine Wissenschaft, die es ihren Mitarbeitenden ermöglicht, dauerhaft körperlich und psychisch gesund zu bleiben.
Prekarisierung und Sicherheit
Alle Care-Tätigkeiten sollten strukturell wie auch gesellschaftlich größere Anerkennung finden und nicht mit Nachteilen (wie der pausierenden Berufserfahrung, weniger Bezahlung, weniger Rentenpunkten etc.) einhergehen. Deshalb fordern wir, dass der Gehaltsstufenaufstieg bundeslandübergreifend in sämtlichen Tarifverträgen in der Eltern- und Pflegezeit nicht ausgesetzt wird und andere finanzielle Benachteiligungen ausgeglichen werden.
Weil die Existenzangst auf befristeten Stellen ständige Begleiterin ist und Energie frisst, fordern wir langfristige Perspektiven im Wissenschaftsbetrieb, sodass die finanzielle Absicherung für Mütter* und Kinder, Sorgetragende und Fürsorgebedürftige auf lange Sicht gegeben ist.
Raum und Zeit
Wir fordern einen eigenen Raum (à la Virginia Woolf) für jede Mutter* in der Wissenschaft, in dem sie ungestört denken und arbeiten kann. Dieser Raum wird nicht vermischt mit familiären Dingen. Dieser Raum darf gleichzeitig voll von familiären Dingen sein, ohne dass es sich negativ auf die Reputation der Mutter* in der Wissenschaft auswirkt. Mutter* und zugleich Wissenschaftler*in zu sein darf sich nicht nachteilig aufeinander auswirken. Wir fordern, dass sichtbare Mutterschaft nicht als unprofessionell gilt.
Wir fordern, dass entweder niemand oder jede*r im Bewerbungsgespräch nach Kinderwunsch, Familienplanung oder Familiensituation gefragt wird. Wir fordern, dass Arbeitgeber*innen im Bewerbungsgespräch dazu Stellung beziehen, wie sie die Familiensorgearbeit und Zeitflexibilität der einzustellenden Person unterstützen werden.
Weil wir nicht um Zeit kämpfen wollen, fordern wir eine andere Selbstverständlichkeit im Umgang mit der Verteilung von Arbeits- und Familienzeit, d. h. flexible Arbeitszeitgestaltungen zur bestmöglichen Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wir fordern eine Wissenschaft, die viel mehr auf Kooperation setzt als auf Konkurrenz, z. B. indem Stellen, wie Professuren, im Team besetzt werden können.
Wir fordern eine Wissenschaft, in der Teilzeitarbeit auch Arbeit in Teilzeit bedeutet, ohne dass Mitarbeitenden daraus ein Nachteil entsteht. Auch in Teilzeit sollte eine sogenannte Karriere in der Wissenschaft möglich sein. Wir fordern die Möglichkeit, nach eigenem Belieben die zeitweilige Teilzeitarbeit wieder auf eine Vollzeitstelle aufstocken zu können, ohne die Zuschreibung von außen, der Care-Arbeit oder der Erwerbsarbeit als Vollzeit berufstätige Mutter* nicht mehr gerecht werden zu können.
Mutterschaft und Wissenschaft
Wir fordern, dass es in der Wissenschaft kein Stigma mehr ist, Mutter* zu sein! Wir fordern, dass es in der Wissenschaft kein Stigma mehr ist, keine Mutter* zu sein. Die Entscheidung des Mutter*werdens oder -seins sowie der Zeitpunkt hierfür sollten höchst persönlich bleiben (dürfen), ohne notwendigerweise strukturelle Bedingungen miteinbeziehen zu müssen.
Der Wert einer Frau* bzw. einer Person bemisst sich nicht auf Basis des Mutter*seins oder des Nicht-Mutter*seins bzw. des Elternseins oder Nicht-Elternseins. Wir fordern, dass jeglicher Kommentar über das Mutter*werden und/oder (Nicht-)Mutter*sein einer anderen Person abgeschafft wird, weil das Ideal der Mutter* abgeschafft werden muss. Jede Mutter* muss für sich individuell entscheiden können, wie Mutter*sein geht.
Wir fordern die Abschaltung des schlechten Gewissens, bei der Kombination von Erwerbsarbeit und Care-Arbeit keinem der beiden zu 100 % gerecht werden zu können. Wir fordern die Abschaltung des Schlechten-Gewissen-Machens durch andere. Jeder Person sollte es strukturell ermöglicht werden, eine eigene Vereinbarkeitslösung zu finden, und diese sollte respektiert werden.
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Weil zwei Tage vor Manuskriptabgabe mal wieder die Kita geschlossen wurde, konnten wir keinen Schluss für dieses Manifest formulieren. Daher fordern wir, dass alle Leser*innen des Buches dieses Manifest weiterschreiben, ganz klassisch für sich selbst auf Papier, per E-Mail an mail@Mutterschaft-wissenschaft.de oder auf Twitter unter #Mutterschaftundwissenschaft an @NW_mu_wi_schaft.
Diesen Schluss so zu formulieren war vielen von uns ein großes Anliegen. Nicht nur pandemisch oder postpandemisch ist das Leben oft unvorhersehbar und kommt den vielen Deadlines in die Quere. Um tatsächlich all ihre Kinder gleichermaßen zu nähren, braucht die Alma Mater einen fundamentalen Sinneswandel, damit es selbstverständlich ist, dass Menschen sich um andere Menschen kümmern – und dass dies ihnen nicht zum Nachteil gereicht, sondern vielleicht sogar das Gegenteil bewirken sollte! Also geht es eigentlich darum, dass sich der Wissenschaftsbetrieb dazu bekennt, dass er auf Sorge angewiesen ist und dass Menschen, die die Fähigkeit besitzen, sich um andere zu kümmern, auch gute Wissenschaftler*innen sein können – vielleicht sogar welche mit wichtigen Fragen für die Zukunft. Der Verunsichtbarung von Müttern* und dem Tabu Mutterschaft entgegenzuwirken ist nicht die Aufgabe Einzelner oder gar Betroffener, sondern Aufgabe der Institution – unserer Alma Mater!
Fußnoten
[1] Netzwerk Mutterschaft und Wissenschaft www.Mutterschaft-wissenschaft.de. Die zitierten Aussagen von Müttern* sammeln und veröffentlichen wir anonym auf unserem Instagram-Account @Mutterschaft_wissenschaft (Externer Link).
[2] Anhand verschiedener Befragungen, die der Bundesbericht wissenschaftlicher Nachwuchs zusammengetragen hat, lässt sich ein ungefähres Bild zeichnen: 1/6 der Studierenden hat Kinder und 50 % des promovierten Personals, Männer häufiger als Frauen. Wie in Bezug auf den Faktor Geschlecht, öffnet sich auch in Bezug auf den Faktor Elternschaft nach der Promotion die Schere: Auf der Karrierestufe Professur sind Professorinnen deutlich häufiger kinderlos als Professoren. Fast die Hälfte der ohnehin schon wenigen Professorinnen hat keine Kinder, jedoch nur ein Viertel der Professoren (BuWiN, 2021, 163–166).
[3] Auch als Väter, die oftmals vom fatherhood bonus profitieren und deshalb als belastbarer eingestuft und besser bezahlt werden, da sie eine Familie ernähren müssen. Dieser Bonus greift aber nur so lange, bis Väter tatsächlich Familienarbeit übernehmen – dann werden auch sie diskriminiert (Bornstein et al., 2012, 54)
[4] Wir wählen diesen Neologismus, um zu benennen, dass diese Unsichtbarkeit hergestellt ist und zwar durch strukturelle Prozesse, soziale Kontexte und das Agieren von Einzelnen (auch Carstensen, 2019).
[5] Diese Beschreibung, in der sich viele Mütter* wiederfanden, hat Mareice Kaiser (2021) auf dem Blog Edition F geprägt.
Literatur
Arena D. F., Volpone S. D. & Jones, K. P. (2022). (Overcoming) Maternity bias in the workplace: a systematic review. J Manage 49, S. 52–84.
Bornstein, S., Williams, J. & Painter, G. (2012). Discrimination against Mothers is the Strongest Form of Workplace Gender Discrimination: Lessons from US Caregiver Discrimination Law, 28 Int’l J. Comp. Lab. L. & Indus. Rel. 45.
Carstensen, T. (2019). Verunsichtbarung von Geschlechterungleichheiten? Digitalisierte Arbeit zwischen Rhetoriken neuer Möglichkeiten und der Reorganisationen alter Muster. In: B. Kohlrausch, C. Schildmann & D. Voss (Hrsg.), Neue Arbeit – neue Ungleichheiten? Folgen der Digitalisierung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 69–87.
Correll, S. J., Benard, S. & Paik, I. (2007). Getting a job: is there a motherhood penalty. Am J Sociol, 112 (5), S. 1297–1339.
Czerney, S., Eckert, L. & Martin, S. (Hrsg.) (2022). Mutterschaft und Wissenschaft in der Pandemie. Kinder, Care und Krise. Leverkusen/Opladen: Verlag Barbara Budrich.
Czerney, S. & Eckert, L. (2022). Einleitung: Mutterschaft und Wissenschaft in der Pandemie. In: S. Czerney, L. Eckert & S. Martin (Hrsg.), Mutterschaft und Wissenschaft. (Un-)Vereinbarkeit zwischen Kindern, Care und Krise. Leverkusen/Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 15–40.
Czerney, S., Eckert, L. & Martin, S. (Hrsg.). (2020). Mutterschaft und Wissenschaft. Die (Un-)Vereinbarkeit von Mutter*bild und wissenschaftlicher Tätigkeit. Wiesbaden: Springer Verlag.
Czerney, S., Eckert, L. & Martin, S. (2020). Mutterschaft und Wissenschaft – eine Einführung. In: S. Czerney, L. Eckert & S. Martin (Hrsg), Mutterschaft und Wissenschaft. Die (Un-)Vereinbarkeit von Mutter*bild und wissenschaftlicher Tätigkeit. Wiesbaden: Springer Verlag, S. 1–22.
Eckert, L. (2020). Mutterschaftlerin – ein paradoxes Phänomen? In: S. Czerney, L. Eckert & S. Martin (Hrsg), Mutterschaft und Wissenschaft. Die (Un-)Vereinbarkeit von Mutter*bild und wissenschaftlicher Tätigkeit. Wiesbaden: Springer Verlag, S. 25–47.
Kaiser, M. (2021). #CoronaEltern: Heulend auf dem Küchenboden. Verfügbar unter: https://editionf.com/coronaeltern-heulend-auf-dem-kuechenboden/ (Externer Link).
Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (2021). Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021. Statistische Daten und Forschungsbefunde zu Promovierenden und Promovierten in Deutschland. Verfügbar unter: https://www.buwin.de/dateien/buwin-2021.pdf (Externer Link).
Staniscuaski, F., Machado, A. V., Soletti, R. C. et al. (2023). Bias against parents in science hits women harder. Humanit Soc Sci Commun 10, 201. Verfügbar unter: https://doi.org/10.1057/s41599-023-01722-x (Externer Link).
Torres, I. L., Collins, L., Ugwu, D. et al. (2023). Global Call to Action for Mothers in Science. Action Plan for Funding Agencies. Mothers in Science. Verfügbar unter: https://static1.squarespace.com/static/5d1cb606f801140001320f5c/t/63d06dd47e0eb837c18fff9e/1674603995668/Mothers+in+Science+Action+Plan+for+Funding+Agencies+2023.pdf (Externer Link).
Williams, J. (2000). Unbending Gender: Why Family and Work Conflict and What To Do About It. Oxford: Oxford University Press.
Williams, J. C. (2005). The glass ceiling and the maternal wall in academia. New Directions for Higher Education. Wiley Periodicals, vol. 230.