Sahra Dornick Mehr Begeisterung für MINT? Plädoyer für Vielfalt und Diversitätssensibilität in MINT-Fachkulturen

1. Einleitung

Am 7. März 2023 startete Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger die zweite Phase des MINT-Aktionsplans. Als wichtigstes Ziel benannte sie, „mehr Kinder und Jugendliche für MINT [zu] begeistern“. Dies sei nötig, „um die großen Herausforderungen der Zukunft wie Klimawandel und Digitalisierung zu meistern“. Besonders wichtig sei es, „dass […] bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche sowie Mädchen besser erreich[t] und stärker [ge-]förder[t] würden“ (BMBF, 2023).

Seit mehreren Jahren werden Förder- und Mentor*innenprogramme aufgelegt, um Mädchen und Frauen für die MINT-Fächer zu gewinnen. Alle diese Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, Mädchen und Frauen bei ihrer Wahl für einen MINT-Studienplatz und -Beruf zu unterstützen, Begeisterung für MINT zu wecken oder sie auf ihrem Weg vom Studium in die Arbeitswelt zu begleiten.

Trotz aller Bemühungen steigt die Zahl der studierwilligen Frauen*[1] in den MINT-Fächern nur langsam an. Während 2009 noch 30,7 % aller Studienanfänger*innen in den MINT-Fächern weiblich waren, lag dieser Wert 2019 bei nur leicht gestiegenen 33,8 % (GWK, 2020).

Nach wie vor treffen wenige Frauen* die Entscheidung, ein Studium in einem MINT-Fach aufzunehmen. Laut Kessels & Hannover (2004; 2006; 2008) liegt dies vor allem an nach wie vor vergeschlechtlichten Studienwahlen. Die Fachkulturen in den MINT-Fächern sind stark cis-männlich konnotiert und geprägt. Dies führt einerseits dazu, dass für Frauen* die Aufnahme eines MINT-Studiums identitätsinkongruent erlebt wird. Andererseits, so hat die Fachkulturforschung zu MINT dargelegt, wird Frauen* während des Studiums häufig der Eindruck vermittelt, nicht in den Studiengang zu gehören. Derboven & Winker (2010, 59) stellen dar, „dass der Fachkultur in ihren vielschichtigen Facetten für das Verstehen von Studienabbrüchen eine wesentliche Bedeutung zukommt“.

Im folgenden Beitrag plädiere ich dafür, neben der „Begeisterung für MINT“ auch Vielfalt und Diversitätssensibilität in den Fachkulturen der MINT-Fächer in den Blick zu nehmen und, hochschulpolitisch unterlegt, systematischer zu entwickeln. Dies ist unverzichtbar, um diejenigen, die sich trotz der fachkulturellen Herausforderungen für ein MINT-Studium entscheiden, dabei zu unterstützen, dieses erfolgreich abzuschließen, und um die Attraktivität von MINT-Fächern durch eine systematische Öffnung für weitere Zielgruppen zu erhöhen. Überdies stellt die Investition in diversitätssensible Fachkulturen eine ethische Notwendigkeit dar, sichert sie doch das Recht, öffentlich finanzierte Bildungsinhalte diskriminierungsfrei in Anspruch zu nehmen (AGG, 2023).

Einführend gebe ich einen kurzen Einblick in den Forschungsstand der Geschlechterforschung zu Fachkulturen in MINT und gehe danach kursorisch auf Beobachtungen zu Diskursen und Praktiken in den MINT-Fächern ein. Dabei stelle ich zunächst dar, wie im öffentlichen Diskurs der Fachkräftemangel und die Studierunwilligkeit in MINT-Fächern verhandelt wird, und wende mich dann Aussagen zum Umgang mit Vielfalt und Diversität im Kontext des MINT-Studiums zu. Dabei gehe ich insbesondere auf das Phänomen der „stillen Normalität“ von Diskriminierung in MINT-Fächern ein, um einem bislang im öffentlichen Diskurs über „mehr Begeisterung für MINT“ kaum thematisierten Aspekt zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen. Abschließend nehme ich im Fazit eine Einschätzung zur fehlenden Begeisterung für MINT vor und plädiere für eine transformative Veränderung des MINT-Bereichs, welche auf die Integration von Vielfalt und Diversitätssensibilität abzielt, um die Gefährdungen, die von einer für marginalisierte Gruppen potenziell bedrohlichen Fachkultur in den MINT-Fächern ausgehen, zu reduzieren und die Attraktivität von MINT-Fächern für eine diversere Zielgruppe zu erhöhen.

 

[1] Der Begriff „Frauen“ bezeichnet Personen, die dem weiblichen Geschlecht zugerechnet werden. Demgegenüber wird hier der Begriff „Frauen*“ verwendet, um alle Personen einzuschließen, die sich selbst mit dem weiblichen Geschlecht identifizieren. In empirischen Studien erfolgt häufig eine Erhebung der Kategorie „Frauen“.

2. Diskriminierende Fachkulturen in MINT – zum Beispiel Ingenieurwissenschaften

Der aktuelle Forschungsstand der Geschlechterforschung zu MINT macht deutlich, dass es den Frauen* weniger an Begeisterung für MINT-Studien- und -Berufsfächer fehlt, die Prestige, ein gutes Gehalt und kreative Aufgaben versprechen, sondern ihre mangelnde Beteiligung auch in den Fachkulturen der Disziplinen selbst zu suchen ist (Bath et al., 2017; Dornick & Lucht, 2024; Faulkner, 2014; Horwarth et al., 2014; Greusing, 2018).

Ein anschauliches Beispiel für die Unterrepräsentanz von Frauen in MINT-Fächern findet sich in den Ingenieurwissenschaften: Im Jahr 2022 lag der Frauenanteil bei den erfolgreichen Abschlüssen in allen Bundesländern, außer in Berlin (31,7 % Frauenanteil), bei unter 30 % (BMFSFJ, 2024). In alltagsweltlichen sowie fachkulturellen Deutungsmustern wird die Figur des*der Ingenieur*in an deutschen Hochschulen nicht nur als heterosexueller Mann imaginiert, sondern auch als deutsch, weiß und nicht be_hindert (Greusing, 2018; 2022a; 2022b). Paulitz (2006, 23) beschreibt die Ingenieurwissenschaften als „eine der markantesten ‚Problemzonen‘ gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse“. Greusing (2018) spricht von einer strukturell heteronormativen und sexuell aufgeladenen Fachkultur in den Ingenieurwissenschaften, die Frauen auf wenige, fest definierte Randplätze verweist. Sie zeigt auf, wie schwierig es jeweils für Einzelne ist, als eine weiblich gelesene Person in den Ingenieurwissenschaften zu studieren. Leistungen von Frauen werden oft nicht anerkannt; sie sind sexuell diskriminierenden Bemerkungen und Gesten ausgesetzt und stehen aufgrund ihrer Seltenheit stärker im Fokus (Moss Kanter, 1977). Faulkner (2014, 189) weist auf eine paradoxe (Un-)Sichtbarkeit von Frauen in Ingenieurwissenschaften hin, „whereby women engineers are highly visible as women yet invisible as engineers“.

Paulitz & Prietl (2013, 307) zeigen, dass die Ingenieurwissenschaften „zentral um die Idee des technischen Interesses organisiert“ sind, das Frauen regelmäßig abgesprochen wird. Ähnlich spricht Fitsch (2024, 159) von einer „vergeschlechtlichte[n] Politik technischer Artefakte über ein ‚fasziniert sein‘, welches männlich sozialisierten Personen ungefragt zugestanden wird und um das sich weiblich sozialisierte Menschen aktiv bemühen müssen“. Horwarth et al. (2014) machen deutlich, dass weiblich gelesene Ingenieur*innen stets als Außenseiter*innen und nicht zugehörig konstruiert werden. Aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung als token stehen Frauen viel stärker als Männer in MINT-Fächern seitens ihrer Kommiliton*innen unter Beobachtung; entweder werden sie zur „Ausnahmefrau“ stilisiert oder aber sie werden bei Fehlern stark abgewertet oder ignoriert (Greusing, 2018).

Diese prekäre Stellung in der Gruppe von weißen, heterosexuellen Männern macht Frauen* und marginalisierte Personen zu vulnerablen Gruppen in MINT-Fächern. Sie erleben oftmals implizite oder auch explizite Alltagsdiskriminierung sowie auch Bedrohung und Gewalt, was das Absolvieren des Studiums stark erschweren kann (Dornick, 2024; Götschel, 2024; Greusing, 2018; Klein & Rebitzer, 2012).

3. Methodisches Vorgehen

Eigene triangulierte Ergebnisse ethnografischer Beobachtungen, kursorischer Diskursanalysen und Interviews zu Geschlecht und Diversität in MINT-Fächern, die ich seit 2018 durchführe, bestätigen diesen in der Forschung dargestellten Eindruck. Im Folgenden gebe ich einen kurzen Einblick in die auf Konferenzen, in Gesprächsrunden, Seminaren oder auch narrativen Interviews gesammelten Daten, welche auf Erfahrungen marginalisierter Personen, die in MINT-Fächern studieren, studierten und/oder beschäftigt sind, basieren (Dornick, 2024; 2023; 2021; 2020).

Ethnografische Beobachtungen, kursorische Diskursanalysen und Interviews sind Methoden, die dem qualitativen sozialwissenschaftlichen Paradigma zuzuordnen sind. Diese Methoden bieten sich für eine „Tiefenbohrung“ in den subjektiven Erfahrungsraum marginalisierter Personen in MINT an, weil sie es erlauben, individuelle Situierungen zu erheben und offen für „Neues“ oder „Überraschendes“ zu sein (Flick, 2016). Methodologisch schließe ich dabei an wissenssoziologische Arbeiten im Bereich der Geschlechterforschung an, die sich mit der Intelligibilität von marginalisierten Personengruppen beschäftigen (Ahmed, 2012; Goffman, 1973; Butler, 2009; Hill-Collins, 1986).

4. Fehlende Begeisterung für MINT vs. „stille Normalität“ von Sexualisierung, Objektifizierung und Diskriminierung

Die Ergebnisse meiner Untersuchung legen eine Diskrepanz zwischen der im öffentlichen Diskurs zum Fachkräftemangel in den MINT-Fächern geführten Debatte und den Aussagen marginalisierter Personen aus den Fachkulturen offen. Die Bearbeitung dieser Diskrepanz kann hilfreich sein, um weitere geeignete Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität von MINT-Fächern zu ergreifen. Eine Analyse programmatischer hochschulpolitischer Webseiten des BMBF macht deutlich, dass das Motiv der fehlenden Begeisterung für MINT dominant ist. Dies hat zur Folge, dass vor allem in die Förderung der „Begeisterung“ investiert wird. Nach eigenen Angaben „engagiert sich das Bildungsministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bereits seit vielen Jahren intensiv entlang der gesamten Bildungskette. Von 2016 bis 2021 wurden in der Förderrichtlinie ‚Erfolg mit MINT – Neue Chancen für Frauen‘ 55 Projekte mit insgesamt 20,5 Mio. Euro gefördert, um die Ziele des MINT-Pakts nachhaltig zu unterstützen. In den Projekten wurden Strategien entwickelt, mit denen die bildungsbiografischen und beruflichen Übergänge im MINT-Bereich für Mädchen und Frauen erfolgreich gestaltet und individuelle weibliche MINT-Karrierewege unterstützt werden können“ (BMBF 2024).

Titel und Beschreibungen verschiedener Förderlinien und Programme zur Steigerung der Frauenanteile in MINT-Studienfächern und -Berufsgruppen beinhalten oftmals direkte auffordernde Adressierungen, sich MINT-Fächern zuzuwenden, mitzumachen, teilzuhaben an den innovativen Fachinhalten, wie etwa „Erfolg mit MINT“ oder ab 2022 „MissionMINT“ (BMBF-gefördert) sowie „Komm, mach MINT – Nationaler Pakt für Frauen in MINT-Berufen“ (BMBF-gefördert).

Es dominiert ein bestimmter Darstellungstyp, wenn Frauen* im Kontext von MINT adressiert werden sollen: Die kontextualisierenden Bilder zeigen häufig junge Frauen*, die fröhlich in Laborkitteln und mit Schutzbrillen experimentieren oder gemeinsam an technischen Artefakten arbeiten, wie Abbildung 1 und Abbildung 2 exemplarisch zeigen:

In Gesprächen und Interviews mit marginalisierten Personen in MINT zeigt sich allerdings weniger Fröhlichkeit und Aufbruchstimmung. Auffällig ist dabei, dass marginalisierte Personen in Gesprächen zumeist entweder verneinen, jemals in den MINT-Fächern diskriminiert worden zu sein, oder aber voraussetzen, dass es klar sei, dass es ständig zu Diskriminierung in den MINT-Fächern kommt.

Diese beiden – auf den ersten Blick stark voneinander abweichenden – Fälle teilen die Gemeinsamkeit, dass Diskriminierung in MINT-Fächern zunächst „nicht zur Sprache kommt“. Erst auf Nachfragen offenbaren sich zum Teil erschütternde Details. Sobald ich in den Gesprächs- und Interviewsituationen deutlich machte, dass mit Diskriminierung auch Alltagsdiskriminierung gemeint war, sprudelten die Berichte über offene Diskriminierung und Sexismus nur so aus den Personen heraus. Oftmals waren diese Berichte in der Stehgreiffigur der „Heldenreise“ (Greimas, 1966) verpackt. Die Personen berichteten von zum Teil sehr übergriffigen Situationen aus der Perspektive derjenigen, die dies überstanden und daran „gewachsen“ waren. Ein Beispiel für diese Erzählung gibt Imke auf der Webseite der Technischen Universität Darmstadt: „Starke Frauen, starke Zukunft. Wie Frauen den MINT-Bereich an der TU rocken“ (TU Darmstadt, 2021):

„Natürlich habe ich einige negative Erfahrungen als Frau in einer Männerdomäne gemacht. Das für mich Prägendste war in einer Betreuer-Studentin-Situation, in der ich mit Avancen umgehen musste. Insgesamt habe ich dadurch aber gelernt für mich einzustehen und Unrecht offen und ohne Angst vor Konsequenzen anzusprechen. In unserem Umfeld ist für jeden das Arbeiten mit einer Frau noch nicht sehr etabliert, aber ich freue mich über den stetigen Zuwachs an Frauen* an meinem Institut und finde das Arbeiten in gemischten Teams toll.“

In dieser Aussage wird ein häufig zu beobachtendes Muster der „stillen Normalität“ sexistischer Diskriminierungen und Angriffe als Teil der MINT-Fachkultur deutlich. Ein wesentliches Element ist dabei, dass MINT unhinterfragt von Imke als „Männerdomäne“ charakterisiert wird. Daraus lässt sich schließen, dass die männliche Konnotation von MINT-Fächern Teil der gesellschaftlichen doxa ist, also eine vorreflexive Annahme, deren Gültigkeit so naturalisiert ist, dass sich jeder Zweifel daran erübrigt. Zweitens zeigt sich, wie diese Natürlichkeit dabei hilft, Übergriffe zu normalisieren: Imke benutzt sogar den Ausdruck „natürlich“. Anschließend wird der Übergriff von ihr in den semantischen Container einer „negativen Erfahrung“ verschoben. Schließlich lenkt Imke mit einem Verweis auf ihre Bewältigungskompetenz von der gefahrvollen und risikobehafteten Situation ungewollter „Avancen“ ab.

Imkes Bericht, der eigentlich Werbung oder sogar Mut für den MINT-Bereich machen und Ängste, die offenbar zweifellos existieren, ausräumen soll, legt offen, dass sexualisierte Übergriffigkeit und Diskriminierung (Stichwort „Männerdomäne“) Normalität in den MINT-Fächern sind. Sie sind so normal, dass auf der öffentlichen Webseite der Technischen Universität Darmstadt dargestellt wird, dass sexualisierte Diskriminierung etwas ist, das hingenommen werden müsse und als Lernaufgabe für Frauen* angesehen wird.

Dass sexualisierte Übergriffigkeit und vergeschlechtlichte Diskriminierung normal sind und wenig Sensibilität für Geschlecht und Diversität bei Lehrenden und Studierenden vorhanden ist, wurde auch immer wieder in Gesprächen und Interviews deutlich. Bspw. fragte ich in einem Interview mit einer Person, die erfolgreich zwei MINT-Fächer studiert hat, nach dem Studienverlauf. Daraufhin berichtete die interviewte Person zunächst, wie sie sich so gut wie möglich von Seminarformaten ferngehalten sowie für den Master den Hochschulstandort gewechselt hatte. Erst auf meine Nachfrage, ob es dafür besondere Gründe gegeben habe, führte die Person widerstrebend weiter aus. Zunächst betrachtete sie mich still einen kurzen Moment – so als ob sie versuchte festzustellen, ob sie mir vertrauen könnte – und erläuterte dann zögerlich und in knappen Worten, dass der Hauptgrund dafür die cis-männliche Fachkultur gewesen sei sowie die Ignoranz der unterrichtenden Personen und deren Unfähigkeit, Diskriminierung überhaupt zu erkennen.

Gruppenarbeiten stellten sich im Verlauf meiner Forschungen immer wieder als ein Format heraus, das marginalisierte Personen versuchen zu vermeiden. Das mag daran liegen, dass Gruppenarbeiten ein besonders diskriminierungsanfälliges Format darstellen. Sie unterliegen weitestgehend den impliziten Regeln der Fachkultur und laufen damit Gefahr, viele Möglichkeiten für vergeschlechtlichte Gewalt – wie etwa sexistische Witze, sexistische Bemerkungen und vergeschlechtlichte Abwertungen – zu bieten.

Außerdem wurde deutlich, dass hochschulpolitisches Engagement eine große Gefährdung für marginalisierte Studierende in MINT darstellt. So berichtete die interviewte Person davon, nach der Kritik an einer Lehrperson bezüglich ihrer diskriminierenden Unterrichtspraktiken schlecht benotet worden zu sein. Da die Person sonst ausgezeichnete Leistungen erbringt, bewertete sie diese Benotung als Bestrafung. Nach den Erfahrungen an der ersten Hochschule, welche die Person so stark belastet hatten, dass sie einen Studienabbruch in Erwägung gezogen hatte, beschloss sie an der zweiten Hochschule, keine hochschulpolitischen Tätigkeiten mehr aufzunehmen, um sich vor weiteren Bestrafungen zu schützen.

Mehrere Personen berichteten auch davon, dass ihnen ein fehlendes Verständnis für die Relevanz von Ungleichheitsdimensionen in den MINT-Fächern begegnet sei. Studierende berichteten frustriert, dass sie es vermissten, etwas über den sozialen Kontext der Inhalte von MINT-Fächern zu lernen. In von mir analysierten Lernjournalen von Ingenieurwissenschaftler*innen in einer Studie von 2020 fand sich des Öfteren die Aussage, dass die Studierenden keine Artefakte kreieren wollten, die nachweislich Ungleichheitsdimensionen vertieften oder klimabelastend seien. Eine Person gab an, aus diesem Grund ihr Ingenieurstudium abbrechen zu wollen (Dornick, 2024).

Unter diesen Vorzeichen erhalten Programme, die Frauen für MINT begeistern wollen bzw. diese „fit in MINT“ machen wollen, einen schalen Beigeschmack. Die moralische Frage drängt sich auf, inwiefern es als verantwortungsvoll angesehen werden kann, Frauen* und weitere marginalisierte Gruppen für MINT-Fächer anzuwerben.

5. Fazit

Diversität und Inklusion in den MINT-Fächern sind aktuelle Themen in der internationalen Forschungs- und Förderlandschaft. SDG 5: „Achieve gender equality and empower all women and girls“ ist eines der 17 globalen Nachhaltigkeitsziele (UN, 2024), zu deren Erreichung 2030 sich 193 Staaten verpflichtet haben. Verschiedene internationale Fachgesellschaften der MINT-Fächer haben Bekenntnisse verabschiedet, in denen sie sich dafür aussprechen, Partizipation, Inklusion und Empowerment marginalisierter Gruppen in den MINT-Fächern zu fördern (ASEE, 2020). Auf EU-Ebene wird mit „STEAM“ ein etwas anderer Ansatz verfolgt. Hier wurde erkannt, dass es MINT-Fächer attraktiver macht, wenn Kunst-, Sozial- und Geisteswissenschaften in diese integriert werden (EU, 2024).

Zugleich berücksichtigen diese Ansätze noch nicht genug die Gefährdungen, die von einer für marginalisierte Gruppen potenziell bedrohlichen Fachkultur in den MINT-Fächern ausgehen. Arbeitssoziologische Studien machen deutlich, dass alltägliche Diskriminierung psychische Krankheiten verursacht (Reinwald & Kunze, 2020; IKK, 2024). Zudem kann eine sexualisierte Fachkultur, welche Frauen* als potenziell verfügbare Geschlechtspartner*innen rahmt, Übergriffe normalisieren und fördern (Greusing, 2018). Es ist auch zu beachten, dass eingeschränkte Karrieremöglichkeiten oder abgebrochene Studienverläufe und Berufslaufbahnen in MINT-Fächern erhebliche finanzielle und psychische Risiken darstellen, welche die marginalisierten Personen individuell eingehen und verantworten müssen. Es benötigt ein viel stärkeres Bewusstsein dafür, dass aktuell viele Personen wertvolle Lebenszeit, Energie und ihr Wissen in Studienfächer und Berufe investieren, in welchen sie dann nicht nur nicht gefördert, sondern in ihren Potenzialen eingeschränkt werden (Ahmed, 2012). Dies sind unhaltbare, nicht akzeptable und vor allem unattraktive Bedingungen, die es schwierig machen, sich für MINT-Fächer zu begeistern.

Die Ergebnisse der Fachkulturforschung legen nahe, dass dies absolut keine bedauerlichen Einzelfälle sind, sondern strukturelle Dimensionen der MINT-Fachkultur. Auch zeigen kursorische Einblicke: Die Versprechen der MINT-Fächer richten sich nur performativ an „alle“, empirisch gelten sie jedoch nur für die Gruppe weißer, heterosexueller Männer. Die MINT-Fachkultur verweist Personen aus anderen Gruppen als dieser auf ihre Randplätze und/oder schließt sie durch Alltagsdiskriminierung und Sexualisierung aus. Interviews und Gespräche mit marginalisierten Personen machen deutlich, dass diese sich von der Fachkultur in MINT bedroht sehen. Das führt dazu, dass diese Personen sich ganz genau überlegen, wann sie sich einbringen, was sie über sich preisgeben, was sie kritisieren. Sie haben nicht nur die Befürchtung, sondern haben bereits erlebt, dass sie bspw. aufgrund von geäußerter Kritik an diskriminierender Lehre schlechter bewertet wurden.

Diese Schilderungen weisen darauf hin, dass es keine Lösung ist, Frauen* und andere marginalisierte Gruppen in MINT-Studiengänge zu integrieren und darauf zu hoffen, dass dies die über einen langen Zeitraum manifestierten Machtverhältnisse in den Fachkulturen verändert. Vielmehr ist es an der Zeit, mehr in MINT zu wagen, um Vielfalt und Diversitätssensibilität grundlegend in die Fachkulturen zu integrieren (Paefgen-Laß, 2020). Nach wie vor sind Personen aus nicht-weißen, nicht-männlichen und nicht-heterosexuellen sowie aus anderen marginalisierten Gruppen in den MINT-Fächern unterrepräsentiert – unter Studierenden ebenso wie unter Lehrenden und in Führungspositionen. Wie die Forschungen zu Fachkulturen in MINT sowie die hier vorgestellten Analyseergebnisse deutlich machen, wird eine transformative Veränderung des MINT-Bereichs benötigt, welche nicht nur Strukturen und Praktiken, sondern vor allem auch die Deutungsmuster erfasst (Anderson & Ackerman-Anderson, 2010). Für eine transformative Veränderung, die über einen langen Zeitraum gehen kann, nicht frei von Risiken ist und deren Ausgang nicht von vornherein bestimmt werden kann, bedarf es eines starken Engagements für Vielfalt und Diversitätssensibilität von Stakeholdern im Hochschul- und MINT-Bereich.

Literatur

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