Gert Pickel Religiöse Vielfalt an Hochschulen

1. Religiöse Vielfalt an Hochschulen als Folge der gesellschaftlichen Entwicklung

Deutschland ist nicht nur ein Einwanderungsland, sondern mittlerweile auch durch religiöse Vielfalt geprägt (Pickel et al., 2017). So finden in Deutschland derzeit sowohl Säkularisierungsprozesse statt, die eine wachsende Zahl an Menschen ohne Religionszugehörigkeit nach sich ziehen, wie auch religiöse Pluralisierungsprozesse, deren Folge eine größere Zahl an Menschen mit islamischer oder christlich-orthodoxer Religionszugehörigkeit ist. Diese Entwicklungen in der religiösen Landschaft wirken sich, wenn auch zeitlich verzögert, auch auf Hochschulen aus und steigern dort die religiöse Vielfalt. Insbesondere die Zahl muslimischer Studierender nimmt kontinuierlich zu. Besonders stark an den westdeutschen Hochschulstandorten, weniger an den ostdeutschen Hochschulstandorten. Verzögert erfolgt diese Entwicklung, weil lange Zeit teilweise rassistisch geprägte Auswahlprozesse an Schulen gerade jungen Muslim*innen den Zugang zu höherer Bildung erschwerten (Gomolla & Radtke, 2009). Selbst wenn keine belastbaren Zahlen existieren, dürfte der Anteil der muslimischen Studierenden zwar gestiegen sein, aber immer noch nicht den geschätzten Anteil zwischen 6,4 und 6,7 % der deutschen Bevölkerung erreicht haben (Pfündel et al., 2021, 37). In der Studie „Muslimisches Leben in Deutschland 2020“ (Pfündel et al., 2021, 139) konnte immerhin bei 36 % der befragten Muslim*innen eine Hochschulreife ermittelt werden. So wie dies immer noch signifikant unter dem ermittelten Durchschnittswert für Deutschland liegt (51,5 %), zeigt sich gleichzeitig ein erheblicher Anstieg bei der Hochschulreife (14 Prozentpunkte seit 2007 in der letzten Erhebung) – und in der Folge dürfte dies auch zu mehr Studierenden muslimischen Glaubens führen. In den Zahlen quasi deckungsgleich ist das Ergebnis für „Christlich/Andere“, welches vor allem orthodoxe Christ*innen in den Blick nehmen dürfte.

Dies bedeutet, die Zahl der Studierenden mit muslimischer oder orthodoxer Religionszugehörigkeit steigt an. Nimmt man noch ausländische Studierende hinzu, haben sich Hochschulen zu einem multireligiösen Raum entwickelt. Die gelegentliche Einrichtung muslimischer Gebetsräume ist dabei nur eine manifeste Entwicklung. Sichtbar wird dies auch an der seit 2012 stattfindenden Gründung islamischer theologischer Institute an verschiedenen deutschen Hochschulen. Muslimische Religionsausbildung etablierte sich neben der christlichen Theologie und Studiengängen der Judaistik. Dabei nicht erwähnt, aber ebenfalls bedeutsam ist die religiöse Vielfalt, die nicht nur Mitglieder von Weltreligionen, sondern auch Studierende einschließt, die Mitglied einer der kleineren Religionsgemeinschaften sind. Aufgrund ihrer geringen Zahl trifft man im Hochschulalltag weniger häufig auf sie im Vergleich zu muslimischen oder jüdischen Hochschulangehörigen. Dass diese Erhöhung der religiösen Vielfalt an Hochschulen nicht zwingend problemfrei sein muss, zeigen Forschungen, speziell zum antimuslimischen Rassismus und zum Antisemitismus.

2. Religionszugehörigkeit als Ziel von Abwertung

Das Leben als Muslim*in oder Jüd*in in Deutschland und Europa gestaltet sich nicht ganz ohne negative Erfahrungen. So bekundeten in einer Umfrage der Europäischen Agentur für Menschenrechte 80 % der befragten Jüd*innen in Deutschland Diskriminierungserfahrungen (FRA, 2018), und 65 % der Muslim*innen berichteten von Diskriminierungserfahrungen in Deutschland in den letzten fünf Jahren (FRA, 2017, 29). Das Leben als Mitglied einer der beiden genannten Religionsgemeinschaften scheint in Deutschland weder diskriminierungsfrei noch ohne erlebte Vorurteile zu sein. Selbst wenn die Diskriminierungserfahrungen der hier speziell ausgewiesenen religiösen Gruppen bislang in dieser Form noch nicht erhoben sind, hilft die „Studierendenbefragung in Deutschland“ 2021 von 180.000 Studierenden weiter (Meyer et al., 2022). Dort berichteten 26 % der befragten Studierenden von eigenen Diskriminierungserfahrungen, und 46 % gaben an, schon Diskriminierung in ihrem Studienumfeld beobachtet zu haben. Die eigene religiöse Zugehörigkeit wurde nur von 2 % als Diskriminierungsgrund genannt. Immerhin bemerkten 14 % religiöse Diskriminierung bei Kommiliton*innen. Bei einer neuerlichen Befragung unter Studierenden 2022 waren es schon 10 %, die Diskriminierung aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit bekundeten. Diese Werte steigen auf 30 %, wenn man jüdische oder muslimische Studierende befragt, was die höchsten in der Studie genannten Werte von Diskriminierungserfahrungen sind (Hinz et al., 2022, 18). Zudem beobachteten nach eigener Aussage 58 % der jüdischen Studierenden und 41 % der muslimischen Studierenden eine Diskriminierung aufgrund der Religionszugehörigkeit bei anderen Studierenden ihres Glaubens (Hinz et al., 2022, 18). Wie es scheint, ist eine Hochschule kein vollständig diskriminierungsfreier Ort, auch nicht für Mitglieder von Religionsgemeinschaften.

Die Formen der Herabsetzung sind dabei vielfältig und liegen zum Teil in den hierarchischen Strukturen von Hochschulen verankert. Bei den selbst erlebten diskriminierenden Erfahrungen wurden die Abwertung der erbrachten Leistung und dass einem die Leistung nicht zugetraut wurde als wichtigste Gründe angeführt (19 % und 17 %). Danach folgen unangebrachte Bemerkungen zum Privatleben, Ausgrenzung, abwertende Witze oder auch Benachteiligung durch Regeln und Verfahren (Meyer et al., 2022, 6).

Auf der Gegenseite findet sich in der deutschen Gesellschaft eine nicht unwesentliche Verbreitung von antimuslimischen Einstellungen und Rassismus bzw. antisemitischen Ressentiments. Blickt man auf die Ergebnisse der Leipziger Autoritarismus-Studie 2022, dann wünschen sich 24 % der Westdeutschen und 46 % der Ostdeutschen, dass Muslim*innen die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werde, und etwa 40 % fühlen sich durch Muslim*innen als Fremde im eigenen Land (Decker et al., 2022, 72). Dies sind beachtliche Werte. Die rassistische Komponente kommt noch besser heraus, wenn man andere Fragen hinzunimmt: 71 % der Deutschen finden, dass der Islam eine rückständige Religion sei, die unfähig sei, sich an die Gegenwart anzupassen, und immerhin 42 % glauben, dass die meisten muslimischen Jugendlichen islamistischen Terror gut fänden. Unter Befragten mit einem Hochschulabschluss fallen die Werte nur unwesentlich auf 66 % (unfähig zur Anpassung an die Gegenwart) und 32 % (muslimische Jugendliche finden islamistischen Terror gut). Um es einfach zu sagen, ein Hochschulstudium schützt nicht vor antimuslimischem Rassismus. Zwar sind dies keine spezifischen Ergebnisse für derzeitige Studierende, aber es ist zu erwarten, dass antimuslimischer Rassismus auch an Hochschulen vorkommt.

Antisemitische Ressentiments fallen etwas niedriger aus. Speziell wenn man auf den tradierten Antisemitismus blickt: So stimmen nur 7 % der Deutschen der Aussage zu, auch heute noch sei der Einfluss der Jüd*innen zu groß (4 % der Deutschen mit Hochschulstudium). In der Antisemitismusforschung ist aber mittlerweile gut belegt, dass sich antisemitische Ressentiments eher über Umwegkommunikation äußern (Kiess et al., 2020). Eine dort aufzufindende Form ist die Schuldabwehr, im Sinne, man solle doch mehr auf die Verbrechen an Deutschen schauen oder endlich einen Schlussstrich unter den „Schuldkult“ im Umgang mit dem Holocaust ziehen. Ein zweiter Umweg geht über israelbezogenen Antisemitismus. Man spricht z. B. Israel das Existenzrecht ab, um bei Hinweisen darauf, dass dies antisemitisch sei, zu behaupten, dies sei doch nur Israelkritik. Auf diesem Umweg ist es einfacher, dem Vorwurf zu entgehen, ein*e Antisemit*in zu sein, und gleichzeitig seine antisemitischen Ressentiments zu äußern. Entsprechend fallen auch der sekundäre Antisemitismus (Schuldabwehr) – 41 % Zustimmung zur Aussage „Reparationsforderungen an Deutschland nützen oft gar nicht den Opfern, sondern einer Holocaust-Industrie von findigen Anwälten“ – und der israelbezogene Antisemitismus – 19 % Zustimmung zur Aussage „Israels Politik in Palästina ist genauso schlimm wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg“ – ungleich höher aus als der tradierte Antisemitismus. Immerhin liegen hier die Zustimmungswerte unter Deutschen mit Hochschulabschluss erkennbar niedriger (23 % Reparationsforderungen von findigen Anwälten, 10 % Israels Politik wie Nazis). So fallen dann auch die Werte in einer Befragung zu Antisemitismus unter Studierenden mit 8 % allgemeinem und israelbezogenem Antisemitismus niedriger als in der Gesamtbevölkerung aus (Hinz, 2022, 23). Dies gilt auch für muslimische Studierende, zumindest beim israelbezogenen Antisemitismus. Gleichzeitig weist eine beachtliche Minderheit muslimischer Studierender antisemitische Ressentiments auf (33 % allgemeiner Antisemitismus, 37 % israelbezogener Antisemitismus) (Hinz et al., 2022, 23). Kaum zu leugnen ist, dass Hochschulen als Teil der Gesellschaft nicht frei von Rassismus und Antisemitismus sind. Und beide treffen Mitglieder von Religionsgruppen.

3. Ein Spezialfall: Haltungen in der Folge des Nahostkonflikts

Ein spezieller Fall der Auseinandersetzung entlang von religiösen Zugehörigkeiten ist der Nahostkonflikt, der seit 7. Oktober 2023 eine besondere Hitzigkeit erreicht hat. Im Nachgang des Angriffs der Terrororganisation Hamas auf Israel kam es an vielen Hochschulen zu massiven Demonstrationen zur Solidarität mit Palästina und speziell den Palästinenser*innen in Gaza. Dabei zeigten sich gegen Israel gerichtete Positionen, allerdings teilweise auch die Nutzung antisemitischer Sprache und antisemitischer Bilder. Umgekehrt kam es – dies dann eher außerhalb der Hochschulen – zu einem Aufflammen antimuslimischer Aussagen und Positionierungen, die nicht immer, aber doch gelegentlich auf antimuslimischen Rassismus hinwiesen. Dabei wurden Haltungen nicht nur als politische Positionen, sondern manchmal auch über die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft konstruiert.

In Bezug auf die dabei feststellbaren Einstellungen wurde im Frühjahr 2024 auf Wunsch des Bundesministeriums für Bildung und Forschung seitens der Universität Konstanz eine Schnellumfrage unter mehr als 2.000 Studierenden durchgeführt, um einen Eindruck von den entsprechenden Einstellungsmustern zu erhalten (Hinz et al., 2024). Ein Kernergebnis war, dass antisemitische Ressentiments mit Werten um die 8 % an Hochschulen seltener als in der vergleichsweise befragten Gesamtbevölkerung ausfielen (Hinz, 2022, 22). Auch nehmen Studierende Antisemitismus an Hochschulen mit 11 % deutlich seltener wahr als z. B. bei politischen Demonstrationen (55 %) oder im Internet (64 %) (Hinz, 2022, 4). Ebenfalls deutlich wurde eine differenzierte, gelegentlich auch eine ambivalente Position zu den Geschehnissen in Israel und Gaza. So verurteilen 71 % der Studierenden den Überfall der Hamas als verabscheuungswürdigen Terrorakt, doch gleichzeitig finden nur 27 % der Studierenden die militärische Reaktion Israels auf den Angriff gerechtfertigt. Zudem wurde festgestellt, dass sich Studierende innerhalb dieses Konflikts stärker mobilisieren lassen als die Gesamtbevölkerung, was vielleicht auch die Sichtbarkeit dieser Konflikte an Hochschulen miterklärt (Hinz, 2022, 13–14).

Was hat dies mit religiöser Pluralität zu tun? Nun ja, vermehrt führt die Solidarisierung mit einer Gruppe zu einer Abgrenzung gegenüber einer anderen religiösen Gruppe, werden doch Muslim*innen und Jüd*innen hier mit den jeweiligen Konfliktparteien in Verbindung gesehen. Entsprechend kann religiöse Vielfalt auch in politische Auseinandersetzungen mit hineingezogen werden.

4. Religiöse Vielfalt an Hochschulen als Normalität wie Herausforderung

Gerade die zuletzt präsentierte Umfrage zeigt deutlich, Hochschulen sind kein diskriminierungsintensiverer Ort als die Gesellschaft. Aber Diskriminierung existiert eben auch in diesem öffentlichen Raum und in Diskursen. Abwertende Haltungen sind in Hochschulen seltener zu finden als in der Gesamtbevölkerung, und die Bereitschaft, sich aktiv für etwas einzusetzen, ist groß. Aus der hohen Aktivitätsbereitschaft entstehen Reibungsflächen, an denen Konflikte aufbrechen können. Es besteht die Möglichkeit, dass diese Konflikte auch entlang religiöser Linien verlaufen, wie z. B. die größere Verbreitung antisemitischer Ressentiments unter muslimischen Studierenden zeigt. Deswegen müssen sie bei Weitem nicht religiös sein, beruhen antisemitische Ressentiments doch auch auf Sozialisationserfahrungen oder anderweitig erfahrener eigener Diskriminierung durch die Gesellschaft (Pickel & Öztürk, 2022, 223). Trotzdem haben die Abwertungen und Diskriminierungen mit Religion zu tun, werden die Betroffenen doch über ihre Religionszugehörigkeit identifiziert und kategorisiert. Da sich die Vielfalt religiöser Zugehörigkeiten und die Sichtbarkeit religiöser Gruppen trotz der stattfindenden Säkularisierungsprozesse auch an Hochschulen weiter erhöhen werden, ist es sinnvoll, sich diesem Thema auf unterschiedliche Weisen zu nähern, sowohl durch inhaltliche Auseinandersetzung mit verschiedenen Religionen als auch mit ihren Konflikten. Bleiben diese manchmal in Forschung und Lehre noch unsichtbar, ist in der Zukunft eine größere Sichtbarkeit zu erwarten. Dies ist für eine Wissenschaftsinstitution naheliegend und angebracht. Es schließt die Auseinandersetzung mit Vorurteilen, Ressentiments, Antisemitismus und Rassismus, auch in einem intersektionalen Sinne, ein. So sollten Lehrende und Studierende in der Lage sein, Rassismus und Antisemitismus zu erkennen, wenn sie ihm begegnen. Zudem scheint es notwendig, dass Ansprechpartner*innen für die Mitglieder verschiedener Religionen zur Verfügung stehen, die in der Lage sind, die inhaltlichen Problemlagen der Studierenden und Mitarbeitenden zu verstehen. Speziell gilt dies, wenn sie Diskriminierung erfahren.

Literatur

Decker, O., Kiess, J., Heller, A., et al. (2022). Die Leipziger-Autoritarismus-Studie 2022: Methode, Ergebnisse und Langzeitverlauf. In: O. Decker, J. Kiess, A. Heller & E. Brähler (Hrsg.), Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen – alte Reaktionen?. Gießen: Psychosozial, S. 31–90.

FRA (2017). Second European Union Minorities and Discrimination Survey. Muslims – Selected Findings. Verfügbar unter: https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2017-eu-minorities-survey-muslims-selected-findings_en.pdf (Externer Link).

FRA (2018). Experiences and perception of Antisemitism. Second survey on discrimination and hate crimes against jews in the EU. Verfügbar unter: https://fra.europa.eu/en/publication/2018/experiences-and-perceptions-antisemitism-second-survey-discrimination-andhate (Externer Link).

Gomolla, M. & Radtke, F. (2009). Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule (3. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag.

Hinz, T., Marczuk, A. & Multrus, F. (2024). Studentisches Meinungsklima zur Gewalteskalation in Israel und Gaza und Antisemitismus an deutschen Hochschulen (Working Paper Nr. 16). Cluster of Excellence „The Politics of Inequality“. Universität Konstanz.

Meyer, J., Strauß, S. & Hinz, T. (2022). Die Studierendenbefragung in Deutschland: Fokusanalysen zu Diskriminierungserfahrungen an Hochschulen (DZHW Brief 08/2022).

Öztürk, C. & Pickel, G. (2022). Der Antisemitismus der Anderen: Für eine differenzierte Betrachtung antisemitischer Einstellungen unter Muslim:innen in Deutschland. Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik, 6 (1), S. 189–231. Verfügbar unter: https://doi.org/10.1007/s41682-021-00078-w. (Externer Link)

Pfündel, K., Stichs, A. & Tanis, K. (2021). Muslimisches Leben in Deutschland 2020. Studie im Auftrag der Islam Konferenz. Nürnberg: Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge.

Pickel, G., Jaeckel, Y. & Yendell, A. (2017). Religiöse Pluralisierung und ihre gesellschaftliche Bedeutung. Konzeptionelle Überlegungen und empirische Befunde. In: H. Winkel & K. Sammet (Hrsg.), Religion soziologisch denken. Reflexionen und aktuelle Entwicklungen in Theorie und Empirie. Wiesbaden: Springer VS, S. 273–300.