Anne Bentrup & Yvonne Haffner Unsichtbarkeiten in Orientierungsprogrammen: Eine Analyse am Beispiel des Hessen-Technikums

1. Ausgangslage

Zwar beginnen inzwischen insgesamt mehr Frauen als Männer ein Studium an deutschen Hochschulen, doch in MINT-Fächern[1] sind Frauen weiterhin unterrepräsentiert. Unter den Studienanfänger*innen in dieser Fächergruppe betrug im Studienjahr 2022 der Frauenanteil lediglich 35 % (Statistisches Bundesamt, 2024), wobei zwischen den verschiedenen MINT-Fächern große Unterschiede zu beachten sind: Der Frauenanteil reicht von 87 % in Innenarchitektur, über 23 % in Informatik bis zu 8 % in Fahrzeugtechnik (ebd.). Der geringe Frauenanteil in MINT-Fächern stellt nicht nur angesichts des vielfach beschworenen Fachkräftemangels ein Problem dar. Ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis in allen Berufsfeldern ist ein wesentliches demokratisches Ziel, das Gleichberechtigung und Chancengleichheit stärkt. Zudem tragen Rollenvorbilder entscheidend dazu bei, geschlechtsspezifische Stereotype abzubauen. Der niedrige Frauenanteil unter den Studienanfänger*innen in MINT-Fächern weist auf strukturelle Barrieren hin, die beseitigt werden müssen, um eine gerechte und inklusive Gesellschaft zu schaffen.

Zahlreiche Studien- und Berufsorientierungsprogramme adressieren daher gezielt weibliche Studieninteressierte im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich und haben sich zum Ziel gesetzt, mehr Frauen für MINT-Studiengänge und -Berufe zu gewinnen. Dass diese Programme durchaus erfolgreich sind, zeigt ein Blick auf den gestiegenen Frauenanteil unter den Studienanfänger*innen im MINT-Bereich (ebd.). Inwieweit solche Programme dabei aber auch andere Dimensionen der Chancenungleichheit adressieren (können), ist bisher wenig beleuchtet.

In diesem Beitrag sollen daher am Beispiel des Hessen-Technikums Evaluationsergebnisse mit Blick auf Unsichtbarkeiten neu interpretiert werden. Anhand der zehnjährigen, lückenlosen Evaluation inklusive zweier Ehemaligenbefragungen kann mittlerweile hervorragend gezeigt werden, wer am Hessen-Technikum teilnimmt, wie das Programm zur Gleichstellung der Geschlechter beiträgt und wie die Evaluationsergebnisse mit Blick auf Unsichtbarkeiten neu interpretiert werden können.

2. Das Hessen-Technikum

Das Hessen-Technikum ist ein Programm, das darauf abzielt, junge Frauen für Studiengänge und Berufe in den MINT-Fächern zu begeistern. Es handelt sich um ein sechsmonatiges Orientierungsprogramm, das speziell für Abiturientinnen und Fachabiturientinnen entwickelt wurde, um ihnen einen praxisnahen Einblick in technische und naturwissenschaftliche Berufe und Studiengänge zu ermöglichen. Das Programm bietet den Teilnehmerinnen (im Weiteren als „Technikantinnen“ bezeichnet) die Möglichkeit, verschiedene MINT-Berufe kennenzulernen und herauszufinden, ob ein Studium oder eine Ausbildung in diesem Bereich ihren Interessen und Fähigkeiten entspricht. Sie absolvieren zwei dreimonatige Praktika an vier Tagen pro Woche in unterschiedlichen Unternehmen, um praktische Erfahrungen zu sammeln und den Arbeitsalltag in technischen und naturwissenschaftlichen Berufen kennenzulernen. Ergänzend zu den Praktika besuchen die Technikantinnen an einem Tag pro Woche Veranstaltungen an Hochschulen, um Einblicke in verschiedene Studiengänge zu erhalten. Dies umfasst u. a. Vorlesungen, Laborpraktika und Gespräche mit Studierenden und Lehrenden (siehe Abbildung 1).

Das Bild zeigt eine schematische Darstellung des Programms „Hessen Technikum“. Es ist in drei Bereiche unterteilt: 1. Praktikum (Monat 1–3 und 4–6): Teilnehmer absolvieren in zwei verschiedenen Unternehmen jeweils ein dreimonatiges Praktikum, begleitet von einem Mentor oder einer Mentorin. 2. Hochschule Darmstadt: Einmal pro Woche besuchen die Teilnehmer Lehrveranstaltungen an der Hochschule. 3. Zusatzangebote: Dazu gehören Lehrveranstaltungen, ein studentischer Trainerpool für Seminare und Unterstützung sowie Vernetzungstreffen.  Das Programm startet im Oktober und endet im März mit einer Abschlussveranstaltung inklusive Zertifikat.
Abbildung 1: Ablauf Hessen-Technikum

Das Programm wurde 2013–2018 an der Hochschule Darmstadt entwickelt, pilotiert und wird seit 2018 an allen öffentlichen hessischen Hochschulen für Angewandte Wissenschaften angeboten. Die Programmkoordination liegt dabei weiterhin in der Verantwortung der Hochschule Darmstadt, während an den jeweiligen Standorten operative Koordinationsstellen eingerichtet wurden.[2]

Jeweils zum Programmstart im Oktober und zum -abschluss im März werden die Technikantinnen über sich und ihre Erfahrungen mit dem Programm befragt. Neben demografischen Angaben werden die Technikantinnen gebeten, ihre Kenntnisse in Bezug auf MINT-Studienfächer und MINT-Berufe sowie selbsteingeschätzte Passungen und ihre Erfahrungen während des Programms mitzuteilen. Ergänzend hierzu werden Ehemaligenbefragungen durchgeführt, um die Entwicklungen der ehemaligen Teilnehmerinnen über die Zeit nachzuverfolgen. Mit den Ergebnissen dieser Befragungen wird die Wirksamkeit des Programms evaluiert und an den Bedarfen der Zielgruppe weiterentwickelt.

Die Evaluationsergebnisse belegen die positive Wirkung des Hessen-Technikums und zeigen, dass die Teilnehmerinnen nachhaltig vom Hessen-Technikum profitieren (Haffner, 2019): Zu Beginn des Programms zeigt sich bei einem Großteil der Technikantinnen eine Unsicherheit bezüglich der Eignung für ein Studium sowie eine geringe Kenntnis von MINT-Studiengängen und -Berufen. Obwohl Personen mit einer Neigung zu MINT-Fächern und hervorragenden Abiturnoten tendenziell erfolgreicher studieren (Lörz, 2012), belegen die Evaluationsergebnisse des Hessen-Technikums, dass diese Faktoren keine verlässliche Garantie für eine erfolgreiche Studienorientierung darstellen. Trotz der Tatsache, dass die Mehrheit der Technikantinnen ein MINT-Leistungsfach belegt und das Abitur mit überdurchschnittlich guten Noten abgeschlossen hat (55 % mit einem Schnitt besser als 2,0), zeigt sich bei über der Hälfte der Technikantinnen eine signifikante Unsicherheit hinsichtlich ihrer Fähigkeit, ein MINT-Studium erfolgreich zu absolvieren (52 %). Weiterhin weist die wissenschaftliche Literatur darauf hin, dass junge Menschen oft Fächer wählen, die ihnen durch ihre Eltern vertraut sind (ebd.). Dies spiegelt sich in den Befragungsergebnissen des Hessen-Technikums wider, wo 61 % der Eltern einen MINT-Hintergrund haben. Diese Erkenntnisse verdeutlichen, dass selbst bei optimalen Voraussetzungen, wie sie die Technikantinnen laut Fachliteratur mitbringen, eine gemeinsame familiale Affinität für MINT-Fächer nicht notwendigerweise eine umfassende Unterstützung bei der Studienwahl gewährleistet.

Die letzte Ehemaligenbefragung 2022 zeigt, dass nach der Teilnahme am Hessen-Technikum fast alle Alumnae ein MINT-Studium aufnehmen (95 %), erfolgreich studieren (91 % ohne Abbruch oder Studiengangwechsel) und nicht daran zweifeln, das Studium meistern zu können (100 %). Ein Fünftel aller Absolventinnen hält auch nach Abschluss des Hessen-Technikums noch Kontakt zu ihren Praktikumsunternehmen und wird häufig als Werk- oder Dualstudierende weiterbeschäftigt. Die Teilnahme am Programm führt demnach nicht nur dazu, dass an MINT-Fächern interessierte junge Frauen tatsächlich ein Studium in diesem Bereich aufnehmen, sondern die fundierte Studien- und Berufsentscheidung selbst zieht eine nachhaltige Wirkung im Studien- und Karriereverlauf nach sich.

Hier schließt sich nun die Frage an, inwieweit es gelingt, mit einem Orientierungsprogramm wie dem Hessen-Technikum auch jene potenziellen Studierenden anzusprechen, für die der Weg an die Hochschule nicht selbstverständlich ist, für die aber die beschriebene Wirkung des Programms für ein erfolgreiches Studium durchaus hilfreich sein kann (siehe Kapitel 3). Aus diversen Studien ist bekannt, dass Erstakademiker*innen aus unterschiedlichen Gründen – wie mangelndem familiären Wissen und Unterstützung, fehlendem Wissen über das Hochschulsystem, Unsicherheit und Angst vor dem Unbekannten, Mangel an akademischem Selbstvertrauen, geringen finanziellen Ressourcen oder der Komplexität der Entscheidungsfindung – mehr Unterstützung in der Studienorientierung benötigen als Studierende, deren Eltern selbst einen akademischen Abschluss haben (Bargel, 2007).

Im Sommersemester 2021 kamen 44 % der Studierenden an deutschen Hochschulen aus einem Elternhaus, in dem kein Elternteil einen akademischen Abschluss hat (Kroher et al., 2023)[3]. Im hier betrachteten MINT-Bereich ist deren Anteil sogar noch etwas höher und erreicht je nach Studienbereich fast 50 % (ebd.). In den verschiedenen Durchgängen des Hessen-Technikums wird dieser Wert ab 2020/21 überschritten (siehe Abbildung 2): Seit der hessenweiten Ausrollung steigt der Anteil der Erstakademikerinnen stetig an und liegt in den letzten zwei Durchgängen bei über 60 %. Seit 2022 werden aktiv Maßnahmen zur Gewinnung von Erstakademikerinnen umgesetzt (siehe Kapitel 4).

Grafik die den Anteil an Akademiker*innenkindern und Erstakademiker*innen zwischen 2017 und 2024 zeigt. Prozentsatz steigt von 42 auf 67 Prozent an.
Abbildung 2: Erstakademikerinnen im Hessen-Technikum 2017–2024

3. Soziokulturelle Ungleichheiten im akademischen Bildungssystem

Beginnen (Fach-)Abiturient*innen aus nicht-akademischen Elternhäusern schließlich ein Studium, sind sie dennoch mit ungleich verteilten Chancen konfrontiert. Das wissenschaftliche System spiegelt häufig die normativen Hierarchien einer Gesellschaft wider und umfasst dabei auch das Phänomen des Klassismus (Becker, 1993). Klassismus bezieht sich auf die Vorurteile, Diskriminierung und Ungleichheiten, die aufgrund der sozialen Klasse einer Person auftreten können (ebd). Im wissenschaftlichen Feld manifestiert sich dieser Klassismus in verschiedenen Formen – angefangen bei der Verfügbarkeit von Bildung und Ressourcen für den Zugang zur Wissenschaft bis hin zur Bewertung und Anerkennung von wissenschaftlichen Beiträgen je nach sozialer Herkunft (ebd.). Personen aus privilegierten sozialen Klassen haben dadurch oft einen leichteren Zugang zu Informationen, Bildungseinrichtungen, Forschungsmöglichkeiten und finanziellen Ressourcen, was ihre Chancen erhöht, im Studium erfolgreich zu sein (Bargel, 2007).

Bourdieu definiert soziale Klasse als eine Kombination aus ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital (Bourdieu, 1988; Bourdieu, 1984). Ökonomisches Kapital ist das finanzielle Vermögen, das einer Person zur Verfügung steht. Soziales Kapital umfasst soziale Netzwerke, die Zugang zu ökonomischem und/oder kulturellem Kapital bieten können. Kulturelles Kapital ist das Wissen und die Vertrautheit mit kulturellen Praktiken, wie bspw. innerhalb des akademischen Systems. Diese können sich auch in Form symbolischer Marker (z. B. ein Studium an einer renommierten Universität) äußern. Insgesamt geht es bei sozialer Klasse gleichermaßen um ökonomische Ressourcen und die Fähigkeit, in einem bestimmten Kontext zu funktionieren (ebd.). Studierende aus Akademiker*innenfamilien bringen somit in das erste Semester mindestens soziales und kulturelles Kapital mit und werden in den meisten Fällen auch finanziell von ihren Eltern unterstützt. Erstakademiker*innen müssen sich demgegenüber aktiv um Informationen bemühen, sich selbst ein Netzwerk aufbauen und einer Erwerbsarbeit nachgehen (Heublein et al., 2022). Die Notwendigkeit einer Erwerbstätigkeit bedeutet in diesem Kontext für Erstakademiker*innen, dass die verbleibende Zeit, die zum Aufbau des sozialen Kapitals im akademischen Kontext notwendig ist, sinkt (Grunau et al., 2021).

Auch akademische Förderpraktiken (Auszeichnungen für herausragende Leistungen, Chancen für Veröffentlichungen oder intensivere Unterstützung von Lehrenden) adressieren vor allem Studierende, die Zeit dazu haben, im akademischen System sichtbar zu sein, und neben dem Studium keine weiteren Verpflichtungen haben. Diese Mechanismen sind im wissenschaftlichen Feld, insbesondere in prestigereichen Fächerkulturen, unsichtbar, unterschwellig und passieren schleichend (Lörz, 2012). Auffällig werden „Wackelkandidat*innen“ dann erst kurz vor Abbruch des Studiums und erhalten eine Beratung der Hochschulen dadurch meistens zu spät. Das führt nicht nur zu diskriminierenden Strukturen gegenüber Erstakademiker*innen, sondern, weitergedacht, auch zu Verzerrungseffekten innerhalb der Wissenschaftspraxis. Im MINT-Sektor gilt eine weiße[4], männliche Norm als etabliert, die sich durch die genannten Mechanismen reproduziert und somit auch homogen in Bezug auf Perspektiven und Forschungsinteressen ist. Diese Dynamik verstärkt wiederum bestehende soziale Ungleichheiten und hindert eine Vielfalt von Stimmen und Erfahrungen daran, im wissenschaftlichen Diskurs vertreten zu sein. Die reiche, weiße, männliche Norm im MINT-Sektor ist kein Ergebnis biologischer Prozesse, sondern patriarchaler, weißer Herrschaftsstrukturen des wissenschaftlichen Establishments (etwa Crenshaw, 2019; Butler, 2003; Becker, 1993; Elias et al., 1982; Elias et al., 2021).

Unabhängig vom akademischen Hintergrund erarbeiten sich alle Technikantinnen durch die Teilnahme am Hessen-Technikum bereits vor Studienbeginn ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital. Neben der Vermittlung fachlicher Inhalte können die Technikantinnen auch damit beginnen, ein Karrierenetzwerk zu bilden, lernen, wie ein Studium funktioniert, erwerben Soft-Skills und lernen Role-Models kennen, werden finanziell unterstützt oder erhalten Informationen über Finanzierungsmöglichkeiten. Diesen Vorteil haben Studierende ohne Orientierungsphase und ohne akademisches Umfeld in den meisten Fällen nicht.

4. Maßnahmen zur gezielten Gewinnung und Förderung von Erstakademikerinnen in Orientierungsprogrammen

Obgleich Studien- und Berufsorientierungsprogramme häufig auf spezielle Zielgruppen ausgerichtet sind, sollten sie auch ihre inhärente Chance wahrnehmen, Erstakademiker*innen innerhalb ihrer Zielgruppe auf ein Studium vorzubereiten, und hierdurch einen Beitrag zum Abbau von Klassismus an Hochschulen leisten. Herausfordernd dabei ist häufig die Gewinnung von Erstakademiker*innen, da diese seltener als junge Menschen aus akademischen Elternhäusern an Orientierungsmaßnahmen teilnehmen (Bargel et al., 2013; Heine et al., 2014; Spiegler, 2010; BMBF, 2017; Becker et al., 2016).

Im Hessen-Technikum wurden daher in der aktuellen Projektphase gezielt Maßnahmen entwickelt und implementiert, die Erstakademikerinnen einerseits für das Programm gewinnen und andererseits eine nachhaltige Vorbereitung und Integration in das akademische System bewirken sollen.

Die Werbemaßnahmen für das Programm richteten sich hauptsächlich an aktuelle (Fach-)Abiturientinnen, die unmittelbar vor der Entscheidung stehen, ein Studium aufzunehmen. Vor allem Abiturientinnen aus nicht-akademischen Elternhäusern ziehen in dieser Phase jedoch überhaupt kein Studium in Betracht, sondern orientieren sich auf dem dualen Ausbildungsmarkt. Um auch diese Schülerinnen auf das Hessen-Technikum aufmerksam zu machen, wurde die Zusammenarbeit mit den Schulen intensiviert und eine Zusammenarbeit mit Arbeiterkind.de begonnen.

Das Hessen-Technikum wurde für Teilnehmerinnen geöffnet, die zur Erlangung der Hochschulreife noch ein Jahrespraktikum benötigen. Die beiden Praktika des Hessen-Technikums können in Absprache mit der betreuenden Schule als Jahrespraktikum anerkannt werden. Technikantinnen aus bspw. beruflichen Schulen mit einem schulischen Abschluss und einer Berufsausbildung kann so der Zugang zur Hochschule ermöglicht werden. Sie können einerseits die Hochschulreife erwerben und sich zugleich beruflich orientieren. Das Hessen-Technikum ist insbesondere für diese Zielgruppe ein geeignetes Instrument, um mit einer Hochschule in Kontakt zu kommen und so Hemmschwellen und Hindernisse abzubauen. Mit dieser Maßnahme trägt das Hessen-Technikum in besonderer Weise zu mehr Durchlässigkeit im Bildungssystem bei.

Es hat sich gezeigt, dass am Hessen-Technikum interessierte Schülerinnen u. a. aus finanziellen Gründen ihre Teilnahme am Hessen-Technikum absagen. Obwohl die Unternehmen i. d. R. eine Praktikumsvergütung zahlen, ist diese oft nicht ausreichend, um den Lebensunterhalt, die entstehenden Fahrtkosten usw. zu finanzieren. Daher können Technikantinnen bei Bedarf einen Fahrtkostenzuschuss beantragen, damit auch Interessierten aus finanzschwachen Elternhäusern eine Teilnahme ermöglicht wird.

Verschiedene Workshops, wie bspw. Zeitmanagement, Lernstrategien und andere Soft-Skills, wurden zu einem Studienvorbereitungskurs zusammengefasst, um die Technikantinnen so bereits vor der Aufnahme ihres Studiums mit den notwendigen Fertigkeiten, die zur Bewältigung eines Studiums notwendig sind, auszustatten. Weitere Workshops zu Themen wie Wohnen, Studienfinanzierung usw. ergänzen das Portfolio und eröffnen gerade Technikantinnen ohne akademischen Hintergrund und ihren Eltern Optionen der Studienorganisation.

Studierende ohne akademischen Hintergrund sind an Hochschulen mit einer geringeren Selbstverständlichkeit „zu Hause“ als bspw. Studierende aus Akademiker*innenhaushalten. Häufig ist dies mit grundsätzlichen Zweifeln verbunden, den Anforderungen gerecht werden zu können und ein Hochschulstudium überhaupt zu schaffen. Deshalb wurde ein Mentorinnenprogramm entwickelt, das von ehemaligen Technikantinnen selbstständig geplant und umgesetzt wird. Die Mentorinnen werden von hauptamtlichen Koordinatorinnen geschult und erhalten eine Anstellung als studentische Mitarbeiterinnen. Sie entwickeln selbstständig Inhalte für die Termine mit den Technikantinnen und beraten diese nach dem Peer-to-Peer-Ansatz zu Erwartungen und Hürden des Studierens im MINT-Sektor.

5. Fazit

Im Studium angekommen sind die Alumnae des Hessen-Technikums dennoch den sexistischen und klassistischen akademischen Strukturen ausgesetzt. Ein Orientierungsprogramm für weibliche Studieninteressierte mit Fokus auf Förderung von Erstakademikerinnen ist ein wertvoller Schritt in die richtige Richtung. Dennoch bedeutet die Implementierung eines solchen Programms nicht automatisch, dass sich die Strukturen, in denen es umgesetzt wird, grundlegend verändern. Der MINT-Frühjahrsreport 2024 zeigt, dass durch die Gewinnung von „Frauen, Älteren und Zugewanderten“ Fortschritte in der Bekämpfung der Fachkräftelücke erzielt wurden (vgl. Anger et al., 2024). Diese Schlagzeilen lassen vermuten, dass die Motivation hinter der Akquise dieser „neuen Zielgruppen“ keine emanzipatorische ist, sondern rein ökonomische Ziele verfolgt mit einer praktischerweise diversityfreundlichen Außenwirkung. Allerdings bleiben tief verwurzelte Probleme wie Klassismus, der „Glass Ceiling“, der „Gender Pay Gap“ und die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit bestehen und verändern sich höchstens schleppend. Zusätzlich bestehen weiterhin hohe Erwartungen  – schnelle Studienabschlüsse, gute Zensuren, ein rascher Einstieg in die Karriere und zugleich die Anforderung, dabei Berufserfahrung mitzubringen –, was den Druck auf Studierende erhöht. Diese anhaltenden Herausforderungen werfen die Frage auf, wie nachhaltig neue Zielgruppen für MINT gewonnen werden können und wie eine höhere Sichtbarkeit und Integration dieser Gruppen erreicht werden kann. Es ist entscheidend, dass Programme wie das Hessen-Technikum nicht nur punktuell Lösungen bieten, sondern das akademische System auch intrinsisch langfristige, strukturelle Veränderungen anstrebt.

Fußnote

[1] Es handelt sich hierbei um Fächer aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik.

[2] Seit dem Jahr 2020 wird das Hessen-Technikum durch das hessische Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur im Rahmen der Förderlinie QuiS21 (Qualität für Studium und Lehre in Hessen) finanziert.

[3] Der Anteil an Erstakademiker*innen ist in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangen. Inwiefern dies eine Folge verschärfter Zugangschancen ist oder mit der zunehmenden Akademisierung der Bevölkerung zusammenhängt, lässt sich mit diesen Zahlen nicht beantworten (Kroher et al., 2023). Studien legen jedoch nahe, dass die Zugangsbedingungen über die Zeit relativ konstant geblieben sind (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2018).

[4] Um rassistische Macht- und Herrschaftsstrukturen sichtbar zu machen, wird weiß kursiv geschrieben. Dabei handelt es sich nicht um eine Hautfarbe, sondern um eine politische und soziale Position (Sow, 2011).

 

Literatur

Anger, C., Betz, J. & Axel, P. (2024). MINT-Frühjahrsreport 2024. Herausforderungen der Transformation meistern, MINT-Bildung stärken. Gutachten für BDA, MINT Zukunft schaffen und Gesamtmetall. Köln.

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018). Bildung in Deutschland 2018: Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Wirkungen und Erträgen von Bildung. wbv.

Bargel, T. (2007). Soziale Ungleichheit im Hochschulwesen: Barrieren für Bildungsaufsteiger (Hefte zur Bildungs- und Hochschulforschung, 49). Arbeitsgruppe Hochschulforschung Konstanz: Universität Konstanz.

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Becker, G. (1993). Human Capital. A Theoretical and Empirical Analysis with Special Reference to Education. Vereinigtes Königreich: University of Chicago Press.

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